HWA ist das Gedächtnis der Firmen

Unternehmensgeschichte(n) bewahren

Ein Gespräch mit Dr. Ingo Köhler, Geschäftsführer des Hessischen Wirtschaftsarchivs (HWA),  Darmstadt, über die Bedeutung von Firmenarchiven als Image- und Wettbewerbsfaktoren und weshalb es ratsam ist, düstere Kapitel der Unternehmensgeschichte nicht zu verschweigen.

Dr. Ingo Köhler leitet das Hessische Wirtschaftsarchiv in Darmstadt. / Foto: HWA

Herr Dr. Köhler, wenn das große Firmenjubiläum naht und eine Festschrift produziert werden soll, ist das Erstaunen oft groß: Die vorgefundenen Lücken in den Unternehmensarchiven sind nicht selten beträchtlich und kaum zu schließen.
Was ist da falsch gelaufen?
Manchmal ging durch Kriegszerstörungen, Umstrukturierungen oder falsche Lagerung wertvolles Archivgut verloren. Ein anderer Aspekt ist Nachlässigkeit. Unternehmen richten den Fokus in ihrem Alltagsgeschäft stets darauf, wie sie Produkte oder Dienstleistungen neu entwickeln oder optimieren können, um den Gewinn zu steigern und im Wettbewerb bestehen zu können. Diese starke Gegenwartsorientierung führt dazu, dass Geschichte oft ins Hintertreffen gerät.

Traditionsunternehmen, die ein 100- oder 150-jähriges Bestehen feiern und dies zum Anlass nehmen, ihre Firmengeschichte aufarbeiten zu lassen, kommen nicht umhin, sich auch mit ihrer Rolle in der NS-Zeit zu befassen. Warum ist es Ihrer Meinung nach gut und richtig, wenn sich Unternehmen Ihrer Vergangenheit stellen?
Es geht um Moral und die Frage, welche Werte ich als Unternehmen glaubwürdig vorleben will. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die NS-Zeit noch überwiegend totgeschwiegen. Das änderte sich erst in den Achtziger- und Neunzigerjahren: Durch öffentliche Debatten über ihre NS-Vergangenheit waren es vor allem Großkonzerne, die von der historischen Realität eingeholt wurden und das braune Kapitel in ihrer Unternehmensgeschichte daraufhin professionell aufarbeiten ließen. Viele Familienunternehmen tun sich damit bis heute schwer. Menschlich ist das nachvollziehbar: Die späte Erkenntnis, dass der eigene Vater oder Großvater in die Gräueltaten des Nazi-Regimes verstrickt war und zwei Gesichter hatte, kann für die Nachkriegsgeneration sehr schmerzhaft sein. Solche Traumata vertiefen sich nur, wenn man sich nicht offen mit ihnen auseinandersetzt.

Kann es sinnvoll sein, bislang verdrängte Phasen der Unternehmenshistorie durch einen unbeteiligten Dritten wissenschaftlich aufarbeiten zu lassen?
Das empfehle ich dringend. Wenn es um historische Verantwortung geht, dann geht es zuallererst auch um historische Genauigkeit. In Firmen gibt es oft Gründermythen oder einzelne Unternehmerpersönlichkeiten werden romantisch verklärt. Diese verstellten Geschichtsbilder können durch die wissenschaftliche Aufarbeitung einer objektiven historischen Einordnung weichen. Zudem endete in vielen Unternehmen die Unternehmensgeschichte in den Dreißigerjahren und setzte mit dem Wirtschaftswunder wieder ein. Solche Zeitsprünge findet man sogar heute noch in vielen Jubiläumsschriften. Wenn Wissenschaftler diese Phase historisch aufarbeiten, birgt dies die Chance, die NS-Geschichte des Unternehmens im historischen Kontext zu verstehen – und auch für sich selbst Klarheit zu gewinnen.

Können Unternehmen ihre wissenschaftlich aufgearbeitete Historie für ihr Marketing gewinnbringend nutzen, auch über das Firmenjubiläum hinaus?
Durchaus, denn die Unternehmensgeschichte kann ein Imagefaktor sein. Für Unternehmen wird jedoch nicht nur die Außenwirkung immer wichtiger, sondern auch die interne Kommunikation. Jubiläen sind nämlich zentrale Ereignisse, die Identifikation stiften und Mitarbeitende enger an das Unternehmen binden können. Vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels ist das Purpose-Management (Anm. der Redaktion: es geht um den Unternehmenszweck) zunehmend entscheidend. Denn viele Bewerberinnen und Bewerber schauen genau hin: Hat das Unternehmen eine Tradition? Für welche Werte steht es und kann ich mich damit identifizieren? Produziert es nachhaltig und sozialverträglich? Unternehmensgeschichte kann somit ein Wettbewerbsfaktor beim War for Talents sein.

Warum lohnt sich für Unternehmen ein aufmerksamer Blick auf die eigene Vergangenheit?
Gerade in der Rückschau mit ausreichend zeitlichem Abstand zeigt sich, wie Unternehmen Krisen gemeistert haben und es schaffen, in turbulenten Phasen stabil und erfolgreich zu bleiben. Dieses sogenannte Resilienz-Management ist untrennbar mit der Unternehmensgeschichte verbunden. Jeder kennt den Spruch: „Das haben wir schon immer so gemacht.“ In Entscheidungsstrukturen und Produktionsprozessen lassen sich durchaus historische Pfadabhängigkeiten ablesen und Erfolgsfaktoren des Unternehmens identifizieren. Sich derer bewusst zu sein, ist ein Mehrwert. Doch dazu benötigt man ein Archiv als Sammelplatz des Erfahrungsschatzes. Es hat die Funktion eines Gedächtnisses, auf das man bei Bedarf zugreifen und nachschauen kann, warum diese oder jene Entscheidung in einer Krisensituation die richtige war. Zurückzuschauen bietet Orientierung, um Zukunftsfragen besser lösen zu können.

Die Fragen stellte
Petra Menke, IHK Frankfurt am Main

Das Hessische Wirtschaftsarchiv

Das Hessische Wirtschaftsarchiv (HWA) ist seit mehr als 30 Jahren die zentrale Sammelstelle für historische Kulturgüter aus dem Wirtschaftsleben in Hessen. Die gemeinnützige Serviceagentur der hessischen IHKs und der Handwerkskammer Frankfurt-Rhein-Main archiviert Unterlagen von Unternehmen, Verbänden und Organisationen der regionalen Wirtschaft. Das HWA macht Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte in Ausstellungen und Events erlebbar. Darüber hinaus berät es Unternehmen in allen Fragen der historischen Kommunikation sowie der Archivierung und Digitalisierung.

www.hessischeswirtschaftsarchiv.de