Erst Anforderungen erfüllen, dann Finanzierung aushandeln

Kein Geld mehr von der Bank?

Finanzierungen hängen immer stärker davon ab, ob Unternehmen ihre Nachhaltigkeit nachweisen können.

Die Tragödie „Faust“ von Johann Wolfgang von Goethe ist bis heute eines der bedeutendsten Werke der deutschsprachigen Literatur. Zahlreiche Sätze und Redewendungen aus diesem Werk haben Einzug in unseren Sprachgebrauch gefunden. Aus einer kleinen, harmlos scheinenden Frage wurde sogar ein eigener Gattungsbegriff.

In der Szene in „Marthens Garten“ fragt Margarete, auch Gretchen genannt, die Hauptfigur Heinrich Faust: „Nun sag, wie hast du?s mit der Religion?“ (Goethe, Faust I, 3415), Eine unangenehme Frage für den Faust, da er ja einerseits einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat, andererseits aber weiß, dass Gretchen sehr gläubig ist und folglich sein künftiges Liebesglück von der Antwort abhängt. Er windet sich und sucht Ausflüchte. Die Szene beschreibt sehr schön, was auch heute noch unter einer sogenannten Gretchenfrage verstanden wird, nämlich, laut Duden, eine „unangenehme, oft peinliche und zugleich für eine bestimmte Entscheidung wesentliche Frage [die in einer schwierigen Situation gestellt wird]“.

Szenenwechsel

Der Geschäftsführer der Heinrich Faust GmbH sitzt vor seinem langjährigen Kundenbetreuer der Greta-Bank. Er braucht dringend eine Finanzierung, um eine defekte Maschine zu ersetzen, damit laufende Aufträge abgearbeitet werden können. „Bevor ich dir ein Finanzierungsangebot unterbreiten kann“, fragt der Kundenbetreuer, „sag, wie hast du?s mit der Nachhaltigkeit?“

Fiktionaler Unsinn? „Nein“, sagt Cliff Hollmann, Nachhaltigkeitsbeauftragter der Sparkasse Hanau: „Die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsaspekten spielt heute schon bei der Unternehmensfinanzierung eine Rolle und diese Rolle wird eine immer größere werden.“ Genau das ist das Ziel der sogenannten EU-Taxonomie (Verordnung (EU) 2020/852). Sie definiert, was nachhaltige Investitionen sind, und verpflichtet die Finanzmarktakteure, über ihren Anteil an nachhaltigen Investitionen in ihrem Portfolio zu berichten. Vereinfacht ausgedrückt: Die Politik zwingt die Finanzmarktakteure zu mehr Nachhaltigkeit, was nur dann gelingt, wenn diese wiederum ihre Kunden zu mehr Nachhaltigkeit bewegen können. Aus Unternehmenssicht: Nachhaltigkeit durch die Hintertür, übrigens nicht nur für produzierende, sondern für alle Unternehmen!

Natürlich ist die Sparkasse Hanau da nicht allein. Wie ein Erfahrungsaustausch der Vertreter von Banken und Sparkassen im Bezirk der IHK Offenbach am Main am 11. Mai 2023 gezeigt hat, hat die Umsetzung der EU-Taxonomie bei allen Finanzmarktakteuren oberste Priorität. Das bedeutet für Unternehmen: Egal bei welchem Finanzinstitut, irgendwann wird die Frage kommen: „Wie hast du?s mit der Nachhaltigkeit?“

Gretchenfrage vermeiden

Nun könnte man ja clever sein und denken: Wenn die Nachhaltigkeit durch die Hintertür kommt, gehe ich halt vorn raus! Aber sie steht auch vorn: Mit dem Lieferkettensorgfalts­pflichtengesetz, den Vorschriften zur Nachhaltigkeitsberichterstattung, mit unzähligen Vorschriften zu Energie- und Ressourcenverbrauch oder steigenden Anforderungen an Produkte, wie etwa das jüngst beschlossene „Recht auf Reparatur“, stehen genug Nachhaltigkeitsanforderungen, welche die Unternehmen direkt betreffen, unmittelbar vor der Tür.

Die Frage „Wie hast du‘s mit der Nachhaltigkeit“ ist also grundlegend – zuerst vielleicht nur für eine bestimmte Entscheidung, letztendlich aber für die gesamte Zukunft jedes einzelnen Unternehmens. Zur Gretchenfrage wird sie nur bei schlechter Vorbereitung. Weiß der Geschäftsführer der Heinrich Faust GmbH schon vor dem Bankgespräch, wie nachhaltig sein Unternehmen ist, dann wird ihm im Bankgespräch kein Unbehagen entstehen. Übrigens muss er dafür nicht dem Teufel oder einem Berater seine Seele verkaufen. Mit „ecocockpit“ stellt das Land Hessen ein kostenloses Tool zur CO2-Bilanzierung zur Verfügung. Er muss sich nur auf den Weg machen. Jetzt!

Kontakt

Peter Sülzen
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